Revolution in der Box


Die Revolution von 1848/49 in der Sammlung Westermann
Eine Ausstellung in der Städtischen Galerie Fruchthalle Rastatt
vom 8. Mai bis 4. Juli 1999


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Muntermacher der Sinne, Björn Engholm

Zur Ausstellung "REVOLUTION IN DER BOX" - Rastatt 7. Mai 99

  1. Der mühevolle und lange Weg der Deutschen zu nationaler Einheit und Freiheit unter dem schwarz-rot-goldenen Banner gehört merkwürdigerweise zu den bekanntesten und populärsten Teilen unserer Geschichte - und wird, wenn überhaupt, nur an den seltenen Gedenktagen gewürdigt. Einige Etappen seien deshalb holzschnittartig in Erinnerung gerufen.
    1814/15 schafft der Wiener Kongreß den Deutschen Bund. Aber statt der ersehnten Einheit der Deutschen entsteht ein unbefriedigendes Konglomerat: Fünf Königreiche; ein Kurfürstentum; sieben Großherzogtümer; zehn Herzogtümer; zwölf Fürstentümer; ein Landgrafentum, vier Städte...
    1817 und 1832 treffen sich zum Wartburgfest und zum Hambacher Fest die Kämpfer aus den Befreiungskriegen gegen Napoleon und liberale Oppositionelle, um gegen Unterdrückung, Zensur und für Einheit zu demonstrieren.
    In den 30ern formiert sich das Bildungsbürgertum, an der Spitze deutsche Hochschullehrer (Ranke, Brüder Grimm, Schleiermacher, Hegel, Liebig...); sie ver-körperten den freien Geist und eine neue Weltoffenheit, sind Beginn einer modernen Staatsbürgergesellschaft. Die "Göttinger Sieben" (1837) sind Legende...
    1841 beschwört ein junger Mann namens Hoffmann (geboren in Fallersleben) "Einigkeit und Recht und Freiheit" - und zwar "von der Maas bis an die Memel"; er drückt damit, ganz unimperial, die Sehnsucht nach Einheit aus...
    1846 gründen Hecker und Struwe den "Verein zur Beförderung des Wohls der arbeitenden Klassen" und verfassen 1847 das "Offenburger Aktionsprogramm der Demokraten"; die Sozialrevolutionäre bleiben jedoch in der Minderheit.
    1848 kommt es zur "Mannheimer Petition" für "Preßfreiheit", unabhängige Justiz und ein Deutsches Parlament; die Paulskirche tagt.
    23. Juli 1849 die letzte revolutionäre Bastion, die Festung Rastatt, kapituliert vor der preußischen Ordnungsmacht; 19 Demokraten werden hingerichtet.
    Das Ziel, endlich die Zersplitterung zu überwinden und in einem geeinten Nationalstaat zu leben, in dem demokratische Grundfreiheiten gesichert sind, wird nicht erreicht - aber es steckt von nun an tief in den Köpfen und Herzen. Die hier in Rastatt exekutierten Revolutionäre sind quasi die Vorfahren der nun in Berlin werdenden "3. Deutschen Republik".
  2. Es ist schier unmöglich, alle Künstlerinnen und Künstler, wie auch ihre Exponate einzeln zu würdigen. Was aber allen gemein ist: Sie setzen sich mit dem Thema Revolution auseinander - und zwar nicht wissenschaftlich, nicht politisch vordergründig, nicht sozial, sondern mit dem Anspruch und den Mitteln der Bildkunst. Die Faszination ist offenkundig. Exakt 143 Künstlerinnen und Künstler setzen auf eine einzige Herausforderung 143 völlig verschiedene Lösungen.
    Sie verwenden Öl, Acryl, Filzstifte, Kreiden, Pigmente, Bleistift, Leim und Blut; Papiere, Leinwände, Nessel, Kartons, Fotos, Kopien, Stoffe, Folien; Glas und Kunststoffe; Stahl, Aluminium, Eisen, Drähte, Nägel, Messing, Blech, Zinn, Gold und Münzen; Stein und Gips, Beton, Granit, Schiefer, Marmor, Ton und Terrakotta; Holz aller Art; Blumen, Klebebänder, Kerzen, Streichhölzer, Glühbirnen, Haare, Schwamm, Marzipan, Banane und Zwetschgenkerne...
    Ihre Techniken variieren von Malerei, Zeichnung, Mischtechnik, Ätzung, Druck, Prägung, Objekt, Computer, Text bis Collage, De-Collage, Assemblage, und kom-pakter Kleinst-Installation...
    Die Stile reichen von Figuration, Semifiguration zum politischen Realismus, von geometrischer-lyrischer-expressiver-informeller Abstraktion bis zu Konzept, Artepo-vera und jedweder Form von Cross-over.
    Keine Arbeit ist keiner identisch, jede ist eigen: ein Universum der Künste, ein Kos-mos der Phanstasie im klitzekleinen Kästchen!
  3. Und betrachtet man es nicht politisch, sondern ästhetisch, haben diese Künste viel mit der Revolution gemein. Die Aufständischen in Baden wollten das autokratische System aufbrechen, seine harschen Konventionen beseitigen, wollten neue geistige Offenheit und Weite - die Künste brechen mit engen Sehgewohnheiten, öffnen weite Perspektiven neuer Sinnlichkeit, beleben unsere Phantasie und befördern unsere eigene Kreativität. Sie regen uns an, nicht nur rational, sondern auch sinnlich, sprich: ästhetisch zu denken.
  4. Warum dieses heute so nötig ist wie jenes damals, liegt auf der Hand. Wir leben in einer, ästhetisch gesehen, denk-würdigen Zeit.
    • Alltäglich schütten uns die Arabellas, Birthes, Bärbels, Ilonas, Sonias, Nicoles, Sabrinas, Hans`und Andreas`in 15 Talkshows mit visuellem und intellek-tuellem Müll zu (Mittagsthemen: Deine Freundin ist im Bett `ne Null; Schlag`mich nie wieder!; Ich mach´s nur ohne Kondom; Du stinkst; Du bist eine Schlampe; Meine Freundin ist `ne fette Kuh...), und junge und alte Selbstbespiegeler lassen sich öffentlich schlachten: die Seele als Quotenbringer...
    • Gengenormtes Obst und Gemüse bereichert unseren Speiseplan; Fleisch und Käse von geklonten Tieren winkt; und nachdem Fast- und Junk-Food Warschau, Moskau und Peking erobert hat, macht es nun auch die Afrikaner klücklich.
    • Vom Taxi bis zum Friseur, von der Kneipe über das Kaufhaus, von der Tiefgarage bis zum Airport-Klo umhüllt uns eine Glocke endloser Musik-Clips; der Hörfunk, einst Hort der Sprache, mutiert zur Popmaschine.
    • Mehr noch: Reden wir über Bildung, meinen wir Berufs- und Karrierechancen; die Faszination eines geeinten Europas ist auf EURO und Agrarsubventionen verkümmert; der Wert einer Nation bemißt sich an ihren Vorzügen als Wirtschaftsstandort; Städte werden zu Einkaufsparadiesen; Kinos werden an der Börse gehandelt; die Ökobank bietet Abschreibungsobjekte; und finden Menschen sich nicht mehr optimal verwertbar, lassen sie Körper, Seele und Geist neu designen...

Summa: Der Zweck, der Nutzen, Ertrag, Effizienz und Erfolg sind zum allgegenwärtigen Maßstab geworden; der kritische Geist beschränkt sich immer mehr auf ökonomische Rationalität - die Sinne, weil nicht vermarktbar und wirtschaftlich bilanzierbar, geraten immer mehr ins Hintertreffen. Die Folge ist ein überwiegend eindimensionales Denken: ganzheitliches Denken unter Einschluß aller Potentiale wird zur Ausnahme. Wenn aber die eigentlich schöpferischen Kräfte des Menschen, seine sinnlichen Fähigkeiten, seine Intuition, Imagination, Phantasie und Kreativität leiden, leidet am Ende auch die wirtschaftliche, politische und soziale Innovation.

Einen Weg, die müden Sinne munterzumachen, vor allem: wieder neugieriger zu sehen, weisen uns die Künste. Niemand öffnet das Tor zur Revitalisierung der visuellen Kräfte so sehr wie Bildhauer, Maler, Video- und Fotokünstler, Objektemacher, Installateure, Performer...

Die weit über 100 "REVOLUTIONEN IN DER BOX" zeigen plastisch, wieviel Freiheit, Vielfalt, Weitsichtigkeit und Grenzüberschreitung in Kunst begründet und durch Künstler möglich ist; ein, vielleicht das lehrreichste Übungsfeld in Sachen Phantasie und Kreativität - und ein erstklassiger Wegweiser in Sachen Pluralität.

So besehen ist diese Ausstellung nicht nur eine ungewöhnliche Erinnerung an die Geburts-stunden deutscher Demokratie, sondern eine Bereicherung in unsinnlicher Zeit.